Sonntag, 17. März 2013

Entscheidungen – einsam oder gemeinsam?



Die Chancen einer geistlichen Entscheidungsfindung in Gemeinschaft

Das 2. Vatikanische Konzil versuchte, in seinem „aggiornamento“ die Kirche für neue gesellschaftliche
Bewegungen zu öffnen. Dazu gehörte auch die Einsicht, dass das hierarchische
Organisationsprinzip der Kirche nicht alleine stehen darf. Kirche ist immer auch als „communio“
zu verstehen, als Gemeinschaft der Glaubenden. Wir glauben, dass der Heilige Geist in allen
Gliedern der Kirche am Werk ist.

Dieses Kirchenverständnis hat große Auswirkungen auf die Entscheidungsstrukturen. Während
im 19. Jahrhundert die Entscheidungsvollmacht der Amtsträger und der Entscheidungsprimat des
Papstes zentrale Punkte des Kirchenbildes waren, wird seit ca. 30 Jahren versucht, möglichst
viele Gläubige an Entscheidungen zu beteiligen. Auf allen Ebenen der Kirche – vom Pfarrgemeinderat
bis zur Bischofssynode – sind Beratungs und Entscheidungsstrukturen mit starker
Partizipation der Basis entstanden.

Bei aller Öffnung für demokratischere Strukturen und für gemeinsame Wege zur Entscheidung
weiß inzwischen jeder, dass auch in den neuen Strukturen nicht alles glatt läuft. Denn wenn
einfachhin das demokratische Mehrheitsprinzip gelten soll, dann gibt es Unterlegene und Verlierer.
Wenn so lange palavert werden soll, bis alle sich einig sind, kommt man oft an kein Ende.
Wenn in wichtigen Fragen die Letztentscheidung beim kirchlichen Amtsträger bleibt, kann ein
Gremium sich bald überflüssig fühlen. Durch die Möglichkeit einer Partizipation an Entscheidungen
ist meistens noch nicht viel gewonnen; wichtig ist, wie solche Entscheidungen zustande
kommen. Die ignatianische Methode der geistlichen Entscheidungsfindung in Gemeinschaft
kann dazu eine gute Hilfe bieten.

Den Willen Gottes suchen

In den Geistlichen Übungen (Exerzitien) des Ignatius von Loyola läuft vieles auf die „Wahl“
hinaus: der Übende wird auf einem Bekehrungs und Nachfolgeweg an einen Punkt geführt, an dem er ehrlich beginnt zu fragen: „Herr, was willst du, dass ich tun soll?“ Diese Frage nach dem Willen Gottes für das eigene Leben gilt als das Herzstück der Exerzitien. Einfach ausgedrückt verläuft der Prozess so: Nach einer ersten Phase der Reinigung von seinen Sünden beginnt der Übende um innere Vertrautheit mit Jesus zu beten, um ihm besser nachfolgen zu können. Eine solche Bereitschaft zur Nachfolge – aus Liebe und Sympathie zum Herrn – kann sich einstellen, wenn jemand über viele Tage hinweg das Leben Jesu betrachtet. Dabei reflektiert und betet er auch über anstehende Entscheidungen im eigenen Leben. Diese Betrachtungen und Reflexionen lassen in ihm ein Gespür dafür reifen, was mehr der Lebenshaltung Jesu entspricht. Dieses Gespür nennt Ignatius Unterscheidung der Geister.

Die eigenen Motive („Geister“) werden im Blick auf eine anstehende Entscheidung daraufhin überprüft, ob sie im Einklang sind mit der Lebenshaltung Jesu oder nicht. Das innere Gefühl einer solchen Übereinstimmung nennt Ignatius„geistlichen Trost“. Und aus eigener Erfahrung war er überzeugt, dass jemand mittels solcher
Unterscheidungs und Entscheidungsprozesse den Willen Gottes für sein Leben finden kann.
Die ersten Gefährten des Ignatius waren durch die Exerzitien und den Umgang mit den alltäglichen
Fragen in dieser geistlichen Unterscheidung erprobt. Als schließlich 1539 die Frage anstand,
ob sie als Gefährten zusammenbleiben sollten, trafen sie sich zu Beratungen in Rom.

Diesmal sollte es um eine gemeinsame „Wahl“ gehen. Sie standen vor der Aufgabe, einen gemeinsamen
geistlichen Entscheidungsprozeß zu gestalten, gemeinsam nach dem Willen Gottes
zu suchen. Dieser Suchprozess dauerte mehrere Monate. Die Gefährten fanden zu völlig neuen
Beratungs und Entscheidungsmethoden. Und das Resultat, nämlich der Beschluss einen neuen
Orden zu gründen, kann wirklich als Ergebnis einer gemeinsamen Unterscheidung der Geister
angesehen werden. Dieser Vorgang der „Beratung der ersten Gefährten“1 hat Geschichte
gemacht und wird heute immer wieder als Modell für einen geistlichen Entscheidungsprozeß in
Gemeinschaft herangezogen.

Doch auch die Jesuiten haben dieses geistliche Instrument der ersten Gefährten über Jahrhunderte
kaum eingesetzt. Erst der Generalobere P. Pedro Arrupe SJ hat 1971 in einem Brief an
den ganzen Orden dazu aufgerufen, die Chancen einer gemeinsamen geistlichen Entscheidungsfindung
wieder mehr zu nutzen. Seitdem gibt es viele neue Erfahrungen damit und auch eine
Menge Literatur zu diesem Thema2.

Gemeinsam entscheiden – wie geht das?

Bei Entscheidung, die gemeinsam getroffen werden sollen, treten häufig folgende Probleme auf:
1. Manch einer kommt mit vorgefassten Entscheidungen in die Beratung und blockiert dadurch
alle anderen. 2. Sympathie, Antipathie und andere Affekte in den Beziehungen beeinflussen
wesentlich das Resultat. 3. Leute, die gut auftreten können, dominieren die Szene, die Stillen
werden überrollt. 4. Es kommt bald zu Fraktionsbildungen, und diese lassen sich nicht mehr auflösen.
5. Man einigt sich schließlich auf irgendeinen Kompromiss, hinter dem aber niemand
richtig steht und der deshalb auch nicht umgesetzt wird.

Die Vorgehensweise bei der geistlichen Unterscheidungsfindung in Gemeinschaft versucht, solche
Fallen zu vermeiden. Dabei ist die Haltung aller Beteiligten zum Entscheidungsprozeß sehr
wichtig: Will hier jeder seine Meinung und seine Interessen durchdrücken oder suchen wir gemeinsam
nach der Lösung, die wir miteinander für die bessere halten? Geistlich lässt sich diese
Frage so formulieren: Suchen wir gemeinsam nach dem, was mehr dem Willen Gottes entsprechen
könnte, oder ist hier jeder nur auf den eigenen Vorteil bedacht? Wenn ein solches
geistliches Fundament wenigstens im Ansatz vorhanden ist, kann dies dem Beratungsprozess
jene Freiheit geben, die nötig ist, um wirklich offene Fragen stellen zu können.

Dies bedeutet auch, dass jeder sich um eine gewisse „Indifferenz“ gegenüber den Wahlalternativen
bemüht. Mich indifferent zu machen, bedeutet nicht, dass mir die angebotenen Lösungsalternativen
egal sind; vielmehr heißt es, offen zu sein für verschiedene Lösungsmöglichkeiten
und sich nicht vorschnell an einer bevorzugten Lösung festzubeißen.
Um Ruhe und Klarheit im Beratungsprozess herzustellen, ist es nötig, zu Beginn folgende
Punkte möglichst gut zu klären: Wer darf an diesem Entscheidungsprozeß teilnehmen mit welcher
Entscheidungskompetenz? Welche Frage (möglichst präzise) steht zur Entscheidung an?
Nach welcher Vorgehensweise wollen wir diesen Prozess gestalten?

Wenn es gelungen ist, eine klare Frage zur Entscheidung herauszuarbeiten, kann der eigentliche
Prozess der geistlichen Unterscheidung beginnen. Schnelle Fraktionsbildungen können vermieden
werden, wenn zunächst gar nicht die Frage auftaucht „Wer ist für diese Lösung? Wer ist für
die andere?“, sondern wenn Gründe für und gegen jede der Wahlalternativen vorgetragen
werden. Die Gründungsväter des Jesuitenordens trafen sich jeweils am Abend zu ihren Beratungen.
An einem Abend sollten alle sich äußern zu Gründen, die für die Lösung A sprechen;
abends darauf alle Gründe gegen Lösung A. Wieder einen Tag später äußerten sich alle mit ihren
Gründen für Lösung B, tags darauf gegen Lösung B. Das bedeutete, dass schließlich jeder
Gründe für und gegen jede der Lösungsmöglichkeiten vorgetragen hatte. Dieses Vorgehen ver
schafft eine völlig neue Einstellung zu den Lösungsmöglichkeiten. Tagsüber sollte dann jeder
über die Gründe beten und reflektieren, die er von den anderen gehört hatte, und sie in seine
eigene Urteilsbildung mit einbeziehen.

Der regelmäßige Rückzug ins persönliche Gebet und die beständige Bitte an Gott, er möge uns
den besseren Weg zeigen, reduziert die Gefahr, dass eine Entscheidung zu sehr von Sympathien
und Antipathien oder persönlichen Animositäten beeinflusst ist. Außerdem hilft es, die Argumente
in der Form eines Anhörkreises vorzutragen: jeder darf seine Gründe vortragen, ohne
dabei von anderen unterbrochen oder kritisiert zu werden. Dies gibt jedem ungefähr die gleiche
Chance, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen.

Wenn alle Argumente gehört wurden, soll jeder in der oben genannten Form der Unterscheidung
der Geister bei sich klären, für welche Lösung er sich entscheidet. Dann trägt jeder seine Entscheidung
vor. Hat man sich vorher auf ein Mehrheitsvotum verständigt, mag die Entscheidung
bald fallen. War Einstimmigkeit angezielt, ist solange fortzufahren, bis alle einer Lösung zustimmen
können. In dieser Phase ist die Aufmerksamkeit auf die „Geister“ sehr wichtig. Wenn
sich bei der gefundenen Lösung nicht so etwas wie „geistlicher Trost“ einstellt, liegt es nahe,
dass man sich auf einen faulen Kompromiss geeinigt hat; und es ist dann kaum zu erwarten, dass
es zu einer fruchtbaren Umsetzung der Entscheidung kommen wird. Kann die ganze Gruppe jedoch
in Frieden und Zuversicht zu der Entscheidung stehen, ist dies ein Anzeichen, dass sie vom
guten Geist gewirkt sein mag.

Gemeinsam entscheiden – über ein aktuelles Problem
Angenommen, eine Pfarrgemeinde erfährt, dass sie nach der Ablösung des jetzigen Pfarrers
keinen eigenen Priester mehr haben wird und dass der Nachbarpfarrer die Pfarre mitverwalten
soll. Der zukünftige Pfarrverwalter teilt dem Pfarrgemeinderat mit, dass er statt der bisherigen
drei Sonntagsmessen in Zukunft nur noch eine wird halten können. Und er bittet den Gemeinderat
um einen Vorschlag für die zukünftige Gottesdienstordnung.

Der Gemeinderat könnte sich darauf verständigen, in drei aufeinander folgenden Sitzungen eine
geistliche Entscheidungsfindung in Gemeinschaft zu versuchen (dabei muss nicht jede Sitzung
ganz mit diesem Thema gefüllt sein). In der ersten Sitzung werden einige Lösungsmöglichkeiten
andiskutiert, und man verständigt sich auf zwei oder drei Lösungen, die zur Entscheidung gestellt
werden. Bis zur zweiten Sitzung überlegt sich jeder seine Argumente für und gegen jede
der Lösungen.

Diese Argumente werden dann in einem Anhörkreis vorgetragen und vielleicht
auch danach diskutiert. Eventuell können auch zwischen den Sitzungen andere Gemeindemitglieder
eingeladen werden, ihre Meinung zu den Alternativen zu äußern. In der dritten Sitzung
wird dann nach einer Gebetsstille eine Entscheidung getroffen. Solch eine Vorgehensweise
verspricht eher eine konstruktive gemeinsame Lösung, als wenn man sich in einer Sitzung zuerst
die Köpfe heiß redet und dann am Schluss entnervt abstimmt.

Franz Meures SJ

1„Beratung der ersten Gefährten“, in: Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen und erläuternde Texte, hg. von
P. Knauer, Leipzig 1978, 317326.
2 Einige Titel seien genannt: Peter Köster, Entscheidung als geistlicher Prozeß. Ordensnachrichten 1992.
Sonderreihe Dokumentation, Heft 9.Franz
Meures, Gottes Willen suchen gemäß dem Ziel unserer Berufung.
Zum Prozeß einer geistlichen Entscheidungsfindung in Gemeinschaft. In: Korrespondenz zur Spiritualität der
Exerzitien 40 (1990), Heft 56, 2948.
ders.,
Geistliche Prozesse in Gruppen. In: ebd. 46 (1989), Heft 69, 331.
Friedhelm
Hengsbach, Apostolische Unterscheidung in Gemeinschaft eine
Inspiration für die katholischen
Sozialverbände. In: M. Sievernich/ G. Switek (Hg.), Ignatianisch, Freiburg 1990, 569583.
Marianne
HeimbachSteins,
Unterscheidung der Geister –Strukturmoment christlicher Sozialethik, Münster 1994.
Erschienen in: entschluss 52 (1997), H. 12, S. 2325.

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