Dienstag, 2. April 2013

Wie viel Übung braucht der Glaube?



Wenn wir das Neue Testament fragen: „Wie viel Übung braucht der christliche Glaube?“, so
erhalten wir eine erstaunlich offene, nicht festlegende Antwort. Während etwa der Islam die
Zahl der täglich zu verrichtenden Pflichtgebete vorschreibt und auch ein so entschiedener
Verfechter eines spirituellen (karmamäßigen) Individualismus wie Rudolf Steiner vom
Anthroposophen erwartet, dass er sich täglich wenigstens fünf Minuten zur Meditation
zurückzieht, und ihm dazu vielerlei konkrete Anregungen gibt, befasst sich das Neue
Testament nirgends mit der Häufigkeit oder der Quantität des Gebets und erwähnt auch keine
Weisungen zur konkreten Ausführung. Jesus, der „seiner Gewohnheit gemäß“ den
Synagogengottesdienst besuchte (Lk 4.16), über Speis und Trank die üblichen Dankgebete
sprach und an den Festwallfahrten zum Tempel teilnahm, hat wahrscheinlich – wie jeder
fromme Jude – am Morgen, Mittag und Abend gebetet. Was er jedoch betont, ist nicht die
Zahl, die Quantität, sondern die Qualität des Gebets: Es soll nicht pharisäisch zum
Prestigegewinn veräußerlicht und benutzt werden (Mt 6,6), und man soll es mit mehr
Vertrauen und weniger Worten verrichten, als es die Heiden tun (Mt 6,7). In
neutestamentlicher Zeit bürgerte sich nach jüdischem Vorbild, aber mit dem Text des
Vaterunser, das in der dritten, sechsten und neunten Stunde des Tages verrichtete Privatgebet
ein, das bereits die Didache empfiehlt – neben dem Fasten am Mittwoch und am Freitag1 –,
doch werden die Christen zu diesen Übungen nicht verpflichtet, und in der gleichen Linie
gelten für die katholische Kirche (wenn man vom Chor- und Breviergebet der Ordensleute
und Kleriker absieht) nur die wöchentliche Teilnahme an der Eucharistiefeier sowie jährlich
zwei Fasttage, nicht aber regelmäßig zu verrichtende Gebete als Pflicht.
Und wie steht es mit der Körperhaltung und der Psychotechnik beim Beten und Meditieren –
mit jenen Komponenten, die manchen östlichen Meditationsschulen so wichtig sind, und die
sie so reif entwickelt haben, dass ihre Versenkungsbemühungen einem Christen stark
methodisiert erscheinen, und dass manche westlichen Agnostiker sie aus ihrem religiösen
Kontext herauslösen und zu rein psychohygienischen Zwecken übernehmen? Das Neue
Testament spricht zwar vom Händeerheben und Kniebeugen, aber es lässt dem Beter
hinsichtlich der Einstimmungsmethode und des körperlichen Ausdrucks völlige Freiheit.
Die geistliche Überlieferung hat von Johannes Cassian über Benedikt, die Viktoriner und
Cisneros bis zu Ignatius von Loyola mancherlei methodische Hilfen und Ausdrucksformen
des Gebets entwickelt, doch kennt das Christentum keine allgemein verpflichtende
Gebetstechnik. Bezeichnenderweise bieten die Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola
als die wohl systematischste Anleitung zur Orientierung im Gebet dem Meditierenden
verschiedenartige Weisen der Sammlung an und empfehlen ihm, die Körperhaltung zu
suchen, die ihn je nach seiner Disposition und dem jeweiligen Betrachtungsgegenstand am
meisten fördert – „sei es kniend oder ausgestreckt auf der Erde, sei es liegend, mit dem Blick
nach oben, oder sitzend oder stehend“ (EB 76).
Der christliche Gebetsweg ist offen – damit ihn jeder suche
Die quantitative und methodische Offenheit der christlichen Gebetspraxis führt leicht zu dem
Missverständnis, es sei unwichtig, bestimmte Gebetsformen zu entwickeln und regelmäßig zu
wiederholen. Eine solche Auffassung wäre theologisch unbegründet und psychologisch
abwegig. Bibeltheologisch ist nämlich unübersehbar, dass sowohl die synoptischen
Evangelien als auch die paulinischen Schriften eine Intensität des Gebets verlangen, die ohne
Quantität und ohne Form nicht zu erreichen ist.2

Das Gebet soll so lebendig und stetig sein, dass es den Gläubigen die Schwachheit des
Fleisches überwinden und tödliche Krisen bewältigen lässt. Als Beispiel dafür schildern die
Synoptiker, wie Jesus in Getsemani zuerst „Furcht und Angst“ empfindet und seine Begleiter
zum „Wachen“ auffordert (Mk 14,32-42 par.), wie er seine Not dreimal vor dem Vater
ausspricht und durch sein Beten eine Kraft empfängt, die Lukas als Gestärktwerden durch
einen Engel verdeutlicht – die Kraft zu sagen: „Aber nicht, was ich will, sondern was du
willst, (soll geschehen)“, und die Jünger aufzufordern: „Steht auf, wir wollen gehen!“ Gebet
als intensives „Wachen“, Krisenfest-Werden und Sich-Bereitmachen für die Ankunft der
vollendeten Gottesherrschaft – das ist ein Schwerpunkt der Gebetslehre de Lukas: „Wachet
und betet allezeit, damit ihr allem, was geschehen wird, entrinnen und vor den Menschensohn
hintreten könnt.“ (Lk 21,36) Und zum Gleichnis vom gottlosen Richter und der Witwe: „Jesus
sagte ihnen durch ein Gleichnis, dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten.“
(Lk 18,1) Die gleiche Aufforderung finden wir bei Paulus: „Betet ohne Unterlass“ (1 Thess
5,17) – ein Satz, den später die hesychastische Tradition als Grundlage für das oft und oft zu
wiederholende Jesusgebet betrachtete. Paulus praktiziert offensichtlich ein Gebet, das die
Bitte engstens mit dem Dank verbindet (Phil 4,6) und sich als Auswirkenlassen der in
Christus geoffenbarten Zuwendung Gottes versteht, streng kreuzestheologisch – ohne
Werkfrömmigkeit, Selbstrechtfertigung und Leistungsdenken.

Auf die Frage: „Wie viel Übung braucht der christliche Glaube?“ ist theologisch zu
antworten: So viel, als nötig ist, um die uns objektiv von Seiten Gottes durch Jesus
angebotene vergebende, befreiende und stärkende Nähe auch subjektiv, durch ein geeignetes
Sich-Sammeln, Wiederholen, Variieren, Aussprechen und Auf-sich-wirken-Lassen in unser
wirkliches Denken, Erlebnis und Verhalten aufzunehmen – nach den Voraussetzungen
unserer Psyche. Denn wir haben nicht die Natur von Engeln, sondern die Psyche von
Menschen. In theologischer Sicht haben Frömmigkeitsübungen „nur“ den unentbehrlichen
Sinn, uns zu helfen, dass wir dem Hauptgebot der Selbst-, Nächsten- und Gottesliebe eher
entsprechen. Die „Umkehr“ zur Gottesherrschaft (synoptisch) soll sich zu jener dauerhaften
Verbundenheit mit dem „Abba“ Jesu Christi entwickeln, zu einem (johanneisch) „Bleiben“ in
Jesus und Jesu in uns (Joh 6,56; 15,5; 1 Joh 2,6; 3,24;4,13-16), zu einem (paulinisch)
„Wandeln im Geiste“ Jesu, zum „Insein in Christus“ – bleibend „verwurzelt und auf ihn
gegründet... und überströmend von Danksagung“ (Kol 2,7). Das Wie, die konkrete Gestaltung
des Gebetsweges ist offen – wenn nur dieses Ziel angestrebt wird. Der Glaube lässt diesen
Weg nicht offen, damit wir untätig stehen bleiben, sondern damit wir ihn je individuell und in
Gruppen von Gleichgesinnten aktiv suchen.

Dem Einwand, durch methodisierte Frömmigkeitsübungen mache man sich Gott verfügbar,
ist entgegenzuhalten, dass dies nicht notwendig so ist, sondern von der Absicht abhängt, und
dass man sich beim völligen Verzicht auf Frömmigkeitsübungen das Wirken des Geistes
psychisch unvermittelt und mirakelhaft denkt – dass man dann gerade nicht „wacht und
betet“. Ein regelmäßiges Gebetsleben mit christlicher Ausrichtung ist ein Sich-Bereiten, wie
es Meister Eckhart versteht: „Gott ist sehr beflissen, allzeit bei dem Menschen zu sein... Gott
ist allzeit bereit, wir aber sind unbereit. Gott ist uns ‚nahe’, wir aber sind ihm fern; Gott ist
drinnen, wir aber sind draußen.“3 Auch den dem Hinduismus und Buddhismus
entstammenden Meditationsschulen sollten wir nicht zubilligen, dass sie den Menschen auf
die Erfahrung der Nähe des Absoluten vorbereiten wollen; nur verstehen sie dieses und die
Beziehung des Menschen zu ihm anders, nämlich undialogisch, sofern sie konsequent
monistisch und pantheistisch denken. Der häufig erhobene Vorwurf der „Selbsterlösung“
beschreibt diese Problematik wohl zu plakativ.

Wiederholung muss nicht Erstarrung bedeuten
Die christliche Theologie des Gebets gibt zwar den Inhalt und die Absicht von
Frömmigkeitsübungen vor, doch überlässt sie es der praktischen Spiritualität und der
psychologischen Reflexion jedes Einzelnen und jeder Epoche, die Wege zu suchen, auf denen
die Wahrnehmung für die Nähe Gottes verstärkt werden kann. Alles andere liefe auf eine
Ideologisierung und Kanonisierung geschichtlich gewordener und wandelbarer Frömmigkeit
hinaus. Was lehrt uns nun die Psychologie über das Aufmerksam- und Bereitwerden für die
Gegenwart Gottes? Leider können wir nicht auf eine gesicherte Theorie des emotionalen
Lernens und der Aufmerksamkeitsschulung zurückgreifen, auch sind die bisherigen
Forschungen zur Wirkung von Meditationsübungen für unsere Frage unergiebig. Doch sind
einige Hinweise möglich.

Ein erster Hinweis: In lerntheoretischer Sicht nimmt man allgemein an, dass Wiederholung
grundsätzlich zur Gewohnheitsbildung beiträgt, und zwar nicht nur bei motorischem
Verhalten (wo sich beispielsweise das Einschalten der Gänge beim Autofahren allmählich
automatisiert), sondern analog bei Denk- und Erlebnisgewohnheiten. Wenn wir regelmäßig
das Vaterunser beten, einen Psalm sprechen oder einen Choral singen, kann sich unsere
Aufmerksamkeit und emotionale Reaktionsbereitschaft mit all ihren Assoziationen leichter
auf den religiösen Gegenstand einstellen, als wenn wir dies nur gelegentlich tun, weil die dazu
nötigen gehirnphysiologischen Vorgänge sich einspielen. Widerstände und Zerstreuungen
oder Fremdheit werden leichter überwunden. Wir müssen uns nicht so lange beim Deuten des
Textes und bei der emotionalen Einstellung auf ihn aufhalten, sondern können ihn schneller
mit unserem persönlichen religiösen Erleben verbinden bzw. unser Erleben durch den
vertrauten Text oder Gesang leichter aktivieren. Wir müssen uns auch nicht je neu zu
religiöser Kommunikation aufraffen und einen Ausdruck für sie suchen: Formel und Ritus
entlasten uns bei dieser Aufgabe.

Dies übersieht man, wenn man dem verbreiteten Spontaneitätsideal folgt und das fest
formulierte ritualisierte Beten als weniger erlebnisstark betrachtet als das spontane Beten –
wie es Friedrich Heiler in seiner Studie „Das Gebet“ getan hat4. Wiederholung muss nicht
Erstarrung bedeuten, sondern kann die Konzentration und die Intensität des Erlebens fördern.
Darum bemerkt der Religionswissenschaftler Evan M Zuesse: „Obwohl es üblich wurde,
‚Ritualismus’ in einen Gegensatz zu ‚tieferer Spiritualität’ und zu Mystik zu bringen, finden
wir das Ritual in mystischen Gruppen besonders betont (in Zen-Klöstern, Sufi-Orden,
mystischen Gemeinschaften des Judentums, in Yoga-Ashrams der Hindus usw.); in solchen
Gruppen weitet sich das Ritual oft so aus, dass es jeden Augenblick des täglichen Lebens
ausfüllt. Der Leib ist offensichtlich bei der religiösen Erfahrung wichtiger, als man oft
denkt.“5

Betonen nicht auch die Eheberater, dass die Partner den Ausdruck von Gefühlen bewusst
wollen, lernen und pflegen sollten, wie man es in der Bewegung „marriage encounter“ durch
das tägliche Briefschreiben an den andern übt. Auf das Gebet übertragen und
motivationspsychologisch betrachtet heißt das: Wer nur betet, wenn es ihn spontan dazu
drängt, kennt bald nur noch den gelegentlichen Hilferuf in Angst und Not und vielleicht noch
die Bitte um Vergebung nach schwerer Verfehlung. Not lehrt beten – aber nur in Not. Die
weniger selbstbezogenen theozentrischen Motive, die sich nicht so dranghaft und spontan
melden, obwohl auch sie erfüllend sind – das Suchen der rechten Entscheidung in sozialen
Verantwortungssituationen, der Dank, der Lobpreis und die Anbetung: alles, was das
Vaterunser in den ersten drei Bitten nennt, entwickeln sich nur dann, wenn man ihnen durch
regelmäßige Übung Raum dazu gibt.



Oft beten wir an unseren emotional bedeutsamen Erfahrungen vorbei
Allerdings lehrt die Erfahrung auch, dass die Wiederholung unfruchtbar, leer und sinnlos
werden und Überdruss erzeugen kann. Vielleicht können folgende Hinweise solche
Fehlentwicklungen erhellen. Wiederholung führt nicht zur biblisch vorgezeichneten
Verbundenheit mit dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, sondern eher zum Kreisen um
das eigene Ich, wenn sie ihre Übungen in zwangsneurotischer Gewissensangst und
Skrupulösität vollzieht. Ebenso verfehlt sie ihr Ziel, wenn sie in narzistischem Leistungs- und
Tugendstolz vor allem das Gefühl eigener Größe und Vollkommenheit sucht.6 Wiederholung
verursacht Überdruss, wenn sie Menschen – beispielsweise Jugendliche, die noch nicht in ein
intensives Gebetsleben hineingewachsen sind – mehr Ausdrucksformen vollziehen lässt, als
sie vom Entwicklungsstand ihres religiösen Erlebens her ausfüllen können, sodass sie häufige
Gottesdienste, lange Gebete und nicht enden wollende Kirchenlieder als nicht mehr
nachvollziehbares Zuviel empfinden.

Wiederholung bleibt fruchtlos und wird zum Leerlauf, wenn sie zu wenig „Selbstverstärkung“
vermittelt, das heißt nur intellektuelle Wiederholung von Bekanntem bietet, aber zu wenig
emotional bedeutsame Motive anspricht. Das Verweilen bei einer biblischen Aussage oder
das Wiederholen des Vaterunser, eines Psalms oder eines Chorals wird und bleibt nur dann
lebendig, selbstverstärkend, wenn sich der Übende sozusagen da abholt, wo er emotional
steht, und wenn er die vorgegebenen Formen und Formeln immer wieder persönlich
aktualisiert, sie mit dem Schwerpunkt ausfüllt, der gerade seiner Ansprechbarkeit und seiner
Lebenssituation entspricht. (Dazu eignen sich offene, ausdeutbare Texte besser als eng und
pointiert formulierte.)

Ein Trauernder wird beim wortlosen Meditieren oder beim Sprechen eines Gebets etwas
anderes betonen müssen als jemand, der gerade vom Glück einer gelingenden Partnerschaft
oder der Geburt eine Kindes erfüllt ist. Wer zu Versagens- und Zukunftsangst neigt, wird in
seinem Meditieren und Beten das Vertrauen in Gott mehr aktivieren müssen als ein
notorischer Optimist und dementsprechend bestimmte Kernsätze, Erzählungen und Bildworte
der Bibel bevorzugen und in seine Bemühungen um mehr Gelassenheit einbauen. Wer
überstreng oder überbehütet erzogen wurde und eher die Schwächen als die positiven
Eigenschaften an sich wahrnimmt, sollte sich diesen Mangel an Selbstwertgefühl bewusst
machen und auch aus seinem Meditieren und Beten den Anstoß beziehen, an seiner
Selbstwertschätzung zu arbeiten – so wie eine Studentin im Laufe von gruppenpädagogisch
ausgerichteten Besinnungstagen diese Problematik bei sich erkannte und dann feststellte: „Ich
habe das Gefühl, dass ich erstmals verstehe, dass Gott mich liebt.“ Wenn das Erlernen eines
positiveren Selbstwertgefühls eine wichtige Entwicklungsaufgabe ist, aber nicht als solche
erkannt und nicht mit dem Gebetsleben verbunden wird, bleiben die einschlägigen und
aufbauenden Aussagen der Bibel – „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“ (Jes 40,43);
„So sehr hat Gott die Welt geliebt...“ (Joh 3,16); „Wenn ihr betet, so sprecht: Vater...“ (Lk
11,2) – rein intellektuell übernommene Überzeugungen, die emotional wirkungslos und
nichtssagend sind. Ebenso ergeht es den biblischen Ermutigungen zur Nächstenliebe, wenn
der Beter für seine Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten sozialen Handelns nicht
sensibilisiert ist.

Wie wenig geht von der biblischen Frohbotschaft auch bei fleißig übenden Christen ein in die
reale Angst- und Trauerbewältigung, in die für das Lebensgefühl nicht minder wichtigen
Selbstbewertungsprozesse und in das prosoziale Empfinden und Verhalten. Wie viel bleibt
psychisch wirkungslos. Darum sollte man zu Beginn von Rüstzeiten, Meditationstagen oder
Exerzitien, aber auch in Gebetsgruppen und Bibelkreisen die nötige Zeit für die
Bewusstmachung von Entwicklungsaufgaben, Positiverfahrungen, Problemen und sozialen
Herausforderungen nehmen. Die Teilnehmer sollen nicht nur – wie so oft – abstrakt guten


Willen und erhebende Stimmung mobilisieren, sondern auch erkennen, wo sie diese Kräfte
konkret investieren können. Alle Gebetspraxis muss, um lebendig und emotional bedeutsam
zu bleiben, wichtige Motive, Erlebnisbereitschaften, Entwicklungsaufgaben und soziale
Herausforderungen bewusst machen und ansprechen, das heißt, die zumeist überlieferten
Texte daraufhin aktualisieren.
Psychotechniken unterstützen das Gebet, sie machen es nicht
Über diese motivationspsychologischen Bedingungen und Wege hinaus gibt es weitere
Hilfen, die die Wahrnehmung der Gegenwart Gottes intensivieren können. Man kann sie als
Psychotechniken bezeichnen, sofern man diese nicht deterministisch als Mechanismen,
sondern offener als Erleichterungen unserer Gebetsbemühungen versteht. Sie unterstützen den
Gebetskontakt, sie machen ihn nicht. Ihre Wirkung deutet man am plausibelsten von den vier
Komponenten aus, die – nach der Überzeugung der meisten neueren Emotionstheorien – zu
einer Emotion gehören:

- Der subjektive Gefühlszustand (Trauer, Freude u.a.) – die Erlebenskomponente.
- Kognitive Prozesse wie Bewertungen, Bewältigungsstrategien, Erwartungen usw.
- Die Verhaltens- und Ausdruckskomponente (Gestik, Mimik, Stimme).
- Die physiologische Komponente: Blutdruck, Herz- und Atemfrequenz.
Es ist zu vermuten, dass religiöses Erleben (so wie anderes auch) von diesen vier
Komponenten her gefördert werden kann.7

Von der Erlebenskomponente her kann man die emotionale Reaktionsbereitschaft und
Aufmerksamkeit durch folgende Maßnahmen steigern.
Einstimmung: Der Leiter eines Gebetskreises betont vielleicht eingangs, man solle jetzt nicht
diskutieren, sondern sein Herz sprechen lassen, oder Ignatius von Loyola lädt in den
Exerzitien den Meditierenden ein, „nicht das Vielwissen, sondern das Empfinden und
Verkosten der Dinge von innen her“ (EB 2) zu suchen, und ähnlich sind jeder Gottesdienst
und jeder Meditationstag auf eine gefühlsbereite Atmosphäre angewiesen. Psychologisch:
Man lockert für eine bestimmte Zeit die kritische Distanz, Ich-Zensur, Abwehr und
Willenssteuerung des gewöhnlichen Alltagslebens, um unbefangener Gefühle aufsteigen zu
lassen und sich ihnen hinzugeben.

Stille: Man zieht sich in die Einsamkeit und Stille zurück oder fügt Stillepausen in den
Gottesdienst ein, um die Außenreize zu reduzieren und die Aufmerksamkeit von ihnen weg
auf die Innenwelt der eigenen Gedanken und die Emotionen zu lenken, die sie auslösen.
Konzentration: Man kann die Aufmerksamkeit und die emotionale Reaktionsbereitschaft auf
einen einzigen Inhalt fokussieren und damit steigern, indem man eine Aussage regelmäßig
gedanklich wiederholt, um länger bei ihr zu verweilen und den Gedanken- und
Vorstellungsstrom wieder zu ihr zurückzulenken, wenn er abschweifen möchte. Diese
Mantra-Technik setzt man nicht nur im hinduistischen Namajapa und im buddhistischen
Nembutsu, sondern auch beim christlichen Stoßgebet und beim Rosenkranz ein. Bei letzterem
betet man bekanntlich fünfmal zehn Ave Maria und betrachtet bei jeder Zehnerreihe ein
„Geheimnis“ aus dem Leben Jesu, das man in die Ave Maria einfügt. Beim privaten
kontemplativen Beten des Rosenkranzes kann es auch hilfreich sein, statt der herkömmlichen
„Geheimnisse“ persönliche Meditationsimpulse zu formulieren und zu verwenden. Man kann
auch auf vorgegebene Gebete ganz verzichten und einen Lobpreis oder eine Bitte, in die man
sich vertiefen will, in einem rhythmisch formulierten Satz zusammenfassen und diesen ohne
Hast während der gesamten Betrachtungszeit so wiederholen, dass die Aufmerksamkeit
immer neu auf ihn gelenkt wird.

Beim Jesusgebet (Herzensgebet), das der Westen aus der hesychastischen Tradition der
Ostkirchen übernahm, kommt noch eine Konzentrationstechnik hinzu: Man wiederholt nicht
nur mantraartig die gleiche Anrufung, sondern stimmt sie auch mit dem Atem (manche auch
mit dem Herzschlag) ab und spricht leise oder nur innerlich beim Einatmen: „Herr Jesus
Christus“ und beim Ausatmen: „Erbarme dich meiner.“ Hier lenkt man die Aufmerksamkeit
zuerst auf einen einfachen Reiz, nämlich den Atem- oder Herzrhythmus, um sie dann
gebündelt auf den Betrachtungsgegenstand zu richten – ähnlich wie der Hypnotiseur sie zuerst
auf den Finger fixiert.

Von der kognitiven Komponente her kann man das Erleben auf doppelte Weise steigern.
Emotionale Erwartungen aufbauen: Sie können in der Medizin zu Placebo-Wirkungen führen;
in der Spiritualität aber helfen sie, die Assoziationen und die Gefühlsbereitschaft in die
Richtung des betrachteten Inhalts und erstrebten Erlebens zu lenken und andere Einfälle
zurückzudrängen. So konzentrieren sich die Teilnehmer einer charismatischen Gebetsgruppe
auf den Geist Jesu und verdrängen aufkommende Machtphantasien oder erotische Wünsche.
Und in den Exerzitien beginnt jede Betrachtung mit der Bitte um das, „was ich (jetzt)
begehre“.

Symbolerleben anregen: Man kann einerseits ein äußeres Bild und Symbol betrachten – eine
Kerze, eine Ikone. Man kann andererseits ein inneres Bild aufbauen und bei ihm verweilen.
So haben die Psychotherapeuten K. Thomas und T.A. Ritzmann religiöse Klienten angeleitet,
den Glauben an Gott als Bild, Farbe oder Licht zu symbolisieren und diese Vorstellung in
hypnotischer Sammlung auf sich wirken zu lassen, um depressive Verstimmungen vom
Glauben her aufzuhellen. Die Exerzitien des Ignatius regen ebenfalls Imaginationen an, wenn
sie die Betrachtung von Szenen aus dem Leben Jesu mit dem „Aufbau des Schauplatzes“
verbinden. Ziel ist nicht die historische Rekonstruktion, sondern das verweilende „Schauen
und Erwägen“.

Vielleicht wirkt die Symbolbetrachtung erlebnisaktivierend, weil sie durch die Ähnlichkeit
mit visuellen Schlüsselreizen eigene frühere Erlebnisse unmittelbarer vor Augen stellt als die
distanziertere Sprache. Darüber hinaus gibt sie einem aber auch die Möglichkeit – so wie
Mantras –, länger bei einem Inhalt zu verweilen.
Von der Verhaltens- und Ausdruckskomponente her kommen vor allem zwei Möglichkeiten
in Frage, um das Erleben zu unterstützen:

Körperhaltungen und Gesten – etwa Händefalten, Kreuzzeichenmachen, Armeausbreiten oder
Sichverneigen. Nicht dass sie automatisch Gefühle hervorrufen würden, doch laden sie dazu
ein, mehr Gefühl zuzulassen und die angebotene Ausdrucksform mit ihm zu erfüllen. Sie
können auch einer vorhandenen Gefühlsbereitschaft den Ausdruck erleichtern.
Gesang und Musik: Ihre Wirkung ist noch weithin unerforscht. Bestimmte Formen von
Gesang und Musik wirken unmittelbar stimulierend oder beruhigend, freudig oder traurig. So
können sie auch sinnvoll und erlebnisanregend mit religiösen Inhalten und Texten verbunden
werden. Dies setzt allerdings religiöse Erlebnisbereitschaft voraus. Denn man kann
beispielsweise Weihnachtslieder oder Meditationsmusik hören und sich unter Verzicht auf
jeden religiösen Bezug mit ihrer beruhigenden Stimmung begnügen.

Von der physiologischen Komponente her könnte religiöses Erleben auf folgende Weise
beeinflusst werden: die bewusste Kontrolle des Atemrhythmus, wie sie etwa im Raja-Yoga
gebt wird, könnte – wie die „Resonanzdämpfung der Affekte“ im autogenen Training –
helfen, beginnende Affektspannungen aufzulösen und die religiöse Sammlung vor Störungen
zu bewahren.

Bernhard Grom SJ

Erschienen in: entschluss 49 (1994), H. 5, 9-17 (gekürzt).


1 R. Kaczynski, Das Gebet der Christen, in: S. Ben-Chorin/R. Kaczynski/O. Knoch, Das Gebet bei Juden und Christen, Regensburg 1982, 53-80.
2 Siehe dazu W. Ott, Gebet und Heil. Die Bedeutung der Gebetspraxis in der lukanischen Theologie, München
1965; K. Berger, Gebet (NT), in: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Berlin 1984, Bd. 12, 47-60; R.
Gebauer, Das Gebet bei Paulus, Gießen 1989.
3 Meister Eckhart, Predigt zu Lk 21,31.

4 F. Heiler, Das Gebet, München 1923 (5. Aufl.).
5 E.M. Zuesse, Ritual, in: Eliade, M. (Hrsg.), The encyclopedia of religion, London 1987, Bd. 12, 505-522.
6 Siehe dazu B. Grom, Religionspsychologie, München-Göttingen 1992, 252-269.

7 Vgl. dazu und zum folgenden B. Grom, Religionspsychologie, München-Göttingen 1992, 252-269.


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