Sonntag, 23. Januar 2011

DIE VOLLKOMMENE WELT


Gott der verlorenen Seelen, 
der du verloren bist unter allen Göttern,
höre mich!
Gnädiges Schicksal, das über uns irren, 
wandernden Seelen wacht, 
höre mich! 
Ich lebe inmitten einer vollkommenen Welt, 
ich der Aller-unvollkommenste.
Ich, ein menschliches Chaos, 
ein Nebel aus vertauschten Elementen, 
bewege mich zwischen vollendeten Welten - 

Menschen mit Recht und Ordnung, 
mit rechten Gedanken, 
mit geordnetenTräumen, Wunschbildern, 
die allseits bekannt und aufgezeichnet sind.

Ihre Tugenden, o Gott, sind abgemessen,
ihre Sünden abgewogen,
und sogar jene zahllosen Dinge im Zwielicht zwischen 
Tugend und Sünde haben Rang und Ordnung.
Untadelige Gesetze schreiben vor, 
was bei Tag und Nacht zu tun ist: 
Essen, trinken, schlafen, seine Bloßen bedecken,
und zur rechten Zeit müde zu sein.
Arbeiten, spielen, singen, tanzen, und still dazulie-
gen, wenn die Stunde schlägt.
Dieses denken, jenes fühlen, und mit denken und
fühlen aufzuhören, wenn ein bestimmter Stern am
Horizont erscheint. 
Lächelnd einen Nachbarn auszurauben, 
huldvoll zu verschenken, 
von oben herab zu loben,
vorsichtig zu tadeln, 
mit einem einzigen Wort eine Seele zu vernichten, 
mit einem Atemstoß einen Körper zu verbrennen,
und nach des Tages Arbeit die Hände zu waschen. 
Zu Heben, wie sich's gehört, 
auf vorgeschriebene Art Kurzweil zu treiben, 
die Götter gebührend zu verehren, 
die Teufel kunstvoll an der Nase zu führen - 
und wenn es sein muß, alles zu vergessen, wie
wenn die Erinnerung gestorben wäre.

An einer Idee Gefallen zu finden,
mit Bedacht zu meditieren, 
inniglich das Glück zu genießen,
vornehm zu leiden - 
und dann den Becher zu leeren,
auf daß der morgige Tag ihn wieder fülle.

All diese Dinge, o Gott, 
werden mit Voraussicht geplant, 
zu ihrer Bestimmung in die Welt gesetzt,
sorgsam gehegt,
nach Regeln regiert, 
vom Verstand geführt und schließlich,
wie es vorgeschrieben ist, 
geschlachtet und begraben.
Und sogar die
stillen Gräber in der menschlichen Seele sind 
gekennzeichnet und gezählt.

Eine vollkommene Welt ist es, 
eine Welt vollendeter Vortrefflichkeit, 
eine Welt grenzenloser Wunder, 
die reifste Frucht in Gottes Garten,
der Meister-Gedanke des Universums.

Aber warum, o Gott, muß ich darin leben,
ich, ein Samenkorn unausgereifter Leidenschaft, 
ein irrer Sturm, der nicht nach Ost und nicht nach Westen bläst,
ein verhehrter Überrest eines längst verbrannten Planeten?

O Gott der verlorenen Seelen, der du verloren bist
unter allen Göttern, warum muß ich hier leben?
(K.Gibran)

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