Sonntag, 17. Februar 2013

Anwendung der Sinne


Die „Anwendung der Sinne“ ist eine für Ignatius wichtige Gebetsweise. Er selbst beschreibt
sie folgendermaßen: „Mit der Sicht der Vorstellungskraft die Personen sehen, indem man über
ihre Umstände im einzelnen sinnt und betrachtet und irgendeinen Nutzen aus der Sicht zieht.
… Mit dem Gehör hören, was sie sprechen oder sprechen können … Mit dem Geruch und mit
dem Geschmack riechen und schmecken: die unendliche Sanftheit und Süße der Gottheit, der
Seele und ihrer Tugenden und von allem gemäß der jeweiligen Person, die man betrachtet. …
Mit dem Tastsinn berühren, etwa die Orte umfangen und küssen, auf die diese Personen treten
und sich niederlassen.“1 
Was ist damit gemeint? Wie unterscheidet sich diese „Anwendung der Sinne“ von einer„normalen“ Kontemplation2? Und vor allem: Wie geht das?


Imagination oder Mystik
1599 veröffentlichte der Generalobere der Jesuiten, Claudio Aquaviva, eine verbindliche
Anleitung für das Geben von Exerzitien. Dieses so genannte Direktorium3 versteht unter der
Anwendung der Sinne eine Übung der Imagination. Anders gesagt: Die Beterin/ der Beter
stellt sich eine biblische Szene vor und achtet dann in besonderer Weise darauf, was er/sie
sieht, hört usw., wobei im Unterschied zur Kontemplation das (Nach-)Denken eine deutlich
geringere Rolle spielt. Nach dem Direktorium handelt es sich also um eine schlichte und
jedem Menschen zugängliche Weise zu beten.

Eine andere Interpretation versteht die Ausführungen des Ignatius in einem mystischen Sinn –
als reales Sehen, Hören, Riechen usw., wenn auch nicht mit den körperlichen Sinnen, so doch
mit einem entsprechenden Erleben/ Erfahren. Diese Möglichkeit wurde etwa von Gefährten
des Ignatius vertreten, trat aber mit dem Direktorium in den Hintergrund und wurde erst im
20. Jahrhundert wieder entdeckt.4

Ein rechtes Verständnis dürfte meines Erachtens in einer Verbindung dieser beiden
Sichtweisen liegen5. Dies auch deswegen, weil Ignatius selbst nicht nur von Imagination
spricht, sondern etwa in dem Ausdruck „Süße der Gottheit“ einen Vergleich mit einer
Geschmackserfahrung anführt. Dieses analoge Sprechen nutzt Sinneserfahrungen, um (neue)
Dimensionen in der Beziehung zu Gott zu erfassen oder anzustoßen – einschließlich einer
Offenheit für das Geschenk mystischer Erfahrungen.

Wie geht das?
Hinweis 1: Ignatius schlägt die Anwendung der Sinne nur für zuvor bereits intensiv
betrachtete, vertraut gewordene Bibelstellen vor – also nicht als eine Methode für einen ersten
Umgang mit einem neuen Stoff. Um in dieser Weise zu beten, kann (zusätzlich zu dem oben
Gesagten) der Vergleich mit einem Tag, den man mit einem Freund verbringt, eine Hilfe sein:
In den ersten Stunden spricht man miteinander, teilt man sich einander mit – dem entspricht
die Begegnung mit dem Herrn in der mehrmaligen Kontemplation einer Bibelstelle. Am Ende
eines Tages kann sich dann ein gemeinsames Zusammensein ohne viele Worte einstellen –
auf das Gebet übertragen: die Anwendung der Sinne.

Hinweis 2: In unserer alltäglichen Sprache verwenden wir „sinnenhafte“ Ausdrücke in einem
übertragenen Sinn. Beispiele dafür sind: eine bittere Erfahrung machen, etwas süß finden,
den/ die nicht riechen können, der schlechte Nachgeschmack, den ein Wort oder ein Ereignis
hinterlassen hat. Dies gilt ähnlich für die Übertragung von Ausdrücken der
Sinneswahrnehmung auf die Wahrnehmung unseres Inneren: in uns hineinhören, etwas
innerlich zu er/verspüren u.a.m. In diesem „Sprachspiel“ wird unser sinnliches
Erfahrungswissen genutzt, um entweder Ungegenständliches und Innerliches zum Ausdruck
zu bringen oder eine neue Erkenntnis in diesen Bereichen anzustoßen. Für die Anwendung
der Sinne bedeutet das die Anregung, betend nachzuspüren, wie mir ein Wort Jesu schmeckt,
welche Resonanz es in mir findet usw. – und damit kein primär rationales, sondern ein
verkostendes Erfassen der göttlichen Dinge.

So kann zwar die Anwendung der Sinne ein (sinnenhaftes) Erleben der Gegenwart Gottes
oder das Ausmaß einer solchen Erfahrung nicht machen, sie stellt aber eine Methode dar, um
mit Gottes Hilfe Schritte auf einem Weg hin zu einer ganzheitlicheren Begegnung mit dem
Herrn und den Geheimnisses des Heils zu gehen.

Thomas Neulinger SJ

Erschienen in geist.voll 3/2005
1 IGNATIUS von Loyola: Geistliche Übungen, übers. u. erl. v. Peter Knauer, Graz, 3. Aufl. 1988, Nr.
122-125.
2 Vgl. zu Kontemplation den Artikel in dieser Rubrik in der Ausgabe 2/05.
3 Vgl. Das offizielle Direktorium zum Exerzitienbuch vom Jahre 1599, ins Deutsche übertragen v. Leo
Zodrow SJ, durchges. u. korr. v. Josef Gumbel SJ/ Gundikar Hock SJ, 2. Teil, Frankfurt a. M. 1989, (=
geistliche texte SJ, Nr. 16) [Privatdruck], Nr. 154-158 u. Anm. 54 [Autor: Andreas Falkner], S. II-VII.
4 Vgl. etwa MARÉCHAL Joseph: Application des sens, in: Dictionnaire de Spiritualité 1 (1937) 810-
828; RAHNER Hugo: Die „Anwendung der Sinne“ in der Betrachtungsmethode des hl. Ignatius von
Loyola, in: ders.: Ignatius von Loyola als Mensch und Theologe, Freiburg 1964, 344-369; SUDBRACK
Josef: Die „Anwendung der Sinne“ als Angelpunkt der Exerzitien, in: Ignatianisch. Eigenart und
Methode der Gesellschaft Jesu, hg. v. SIEVERNICH Michael/ SWITEK Günter, Freiburg 1990, 96-119
(Lit.).
5 Vgl. Rahner: Anwendung, 363.

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