Montag, 5. März 2012

Klara von Assisi, die neue Frau



I. Madonna Chiara - Frau Klara

4. Wer den menschlichen Aspekt einer Person des Mittelalters herausschälen will, besonders wenn es sich um eine Frau handelt, dem begegnen nicht wenige Schwierigkeiten, weil das offizielle Modell einer "Heiligen" gemäß vorformulierten Kanones ausgearbeitet wurde. Direkte Quellen wurden meist erst seit kurzem wiedergefunden und kritisch ediert. Dies gilt insbesondere für den Prozeß der Kanonisierung, für die Briefe und das Testament Klaras, zum mindesten in ihrer Vollständigkeit. Während die Regel zur Hälfte von Franziskus genommen scheint, von dem viel abhängt, wird das Privileg der Armut erst in den letzten Jahren gesichert als von Innozenz III. (1216) angesetzt. Nur ein ermüdender Unterscheidungsprozeß erlaubt schließlich, den biographischen Quellen sichere Angaben zu entnehmen, verborgen unter dem hagiographischen Stil, der versucht, die heroische Heiligkeit zu erhöhen, jedoch Angaben einer gewöhnlichen Person vermeidet. Dennoch, wenn wir zwischen verpflichtenden literarischen Aspekten in einem "Brief" die unterscheiden, die als juridische von der Römischen Kurie für die Redaktion einer Regel auferlegt wurden und die unbedingt für die Heiligsprechung notwendigen, scheint es möglich, die Persönlichkeit Klaras herauszuschälen, gesehen in der Umgebung ihrer Familie, von Assisi und Europa ihrer Zeit.
Ohne zu sprechen von einer Hildegard von Bingen, die dem 12. Jahrhundert entstammt und eine Besonderheit für sich darstellt, gehen wir jedoch aus von der Mutter Klaras, Ortolana, einer wirklich starken Frau. Wir finden z. B. Filippa Maresi, Diana von Andalo, Agnes von Prag, Luitgard von Tongeren, Elisabeth von Thüringen, Bianca von Kastilien, Hedwig von Schlesien, Kunigunde von Polen, Mathilde von Magdeburg, Konstanze von Ungarn, Juliana von Lüttich, Maria von Oinies, Hadewijch von Antwerpen. Alles hervorragende Frauen, Jungfrauen und Witwen, oft vornehmer Herkunft, die die Kirche erleuchteten, nach der ritterlich-höfischen Troubadour-Etikette. Sie stehen in gutem Ruf, üben Werke der Barmherzigkeit an den Armen, die in ihrer Zeit zahlreich sind. Unter ihren menschlichen Tugenden werden besonders gelobt ihre beispiellose Sorge für Haus und Familie in beständigem Dienst, in den häuslichen Arbeiten, ihr Familiengeist, ihre Höflichkeit, Umgänglichkeit und Gastfreundschaft, ihr Interesse an kulturellen, bürgerlichen und politischen Problemen, und, schließlich, ihre große Barmherzigkeit gegenüber den Schwachen und Armen jeder Art, verbunden mit Diskretion und praktischem Sinn, innerhalb und außerhalb des Hauses, wie es sich für eine Herrin geziemte.

5. Von allen unterscheidet sich Klara, die sich in der Tat seit ihrer Jugendzeit als eine einzigartige und unverkennbare Frau entpuppte. Von Gestalt kräftig, mutig, kreativ, faszinierend, begabt mit seltenem menschlichen und mütterlichen Gefühlsvermögen, offen für jede gute und schöne Liebe gegen Gott, die Menschen und alle Geschöpfe. Eine reife Person, sensibel für jeden menschlichen und göttlichen Wert, den sie um jeden Preis erwerben möchte, auch mit Akten der Demut, nach dem adligen und höfischen Ideal. Dies wird z.B. von Lancellotto, dem "kleinen Diener" gelebt, in der Nachfolge seiner Herrin, auch mit heroischen Akten und Taten der Abtötung.
Unter all den oben genannten Frauen ist Klara die einzige, die der Kirche und der Menschheit eine Familie Armer Schwestern gegeben hat, die heute noch 18.000 Mitglieder zählt; sie war die einzige, die eine eigene Regel schrieb und den Mut hatte, vom erstaunten und gerührten Papst Innozenz III. das "Privileg der Armut" zu erbitten.
Wir stehen wirklich vor einer "neuen" Frau, wie Papst Alexander in seiner Heiligsprechungsbulle schreiben sollte.

6. Es lohnt, das Geheimnis dieser neuen Frau näher kennenzulernen, wenn es auch schwierig ist, infolge des großen Zeitabstandes, das wahre Angesicht und die Tiefe ihres menschlichen Herzens zu entdecken. Das Urteil von Paul Sabatier, des evangelischen Gelehrten, der Franziskus und Klara sehr liebte, ist wert angeführt zu werden. Dieses Urteil wurde erst nach seinem Tode bekannt: "Die Gestalt Klaras ist nicht lediglich eine Reproduktion des Franziskus, des Gründers des Ordens. Ihre Persönlichkeit konnte man andererseits auch entdecken, indem man sich nicht ausschließlich auf die offizielle Biographie stützte. Sie erscheint als eine der edelsten Frauen, die in der Geschichtsschreibung vorkommen. Man hat den Eindruck, daß sie aus Demut hinter den Kulissen blieb. Aber auch andere haben für sie nicht den richtigen Blick, vielleicht wegen unnützer Vorsicht oder sogar wegen der Rivalität zwischen den verschiedenen franziskanischen Gründungen. Ohne solche Zurückhaltung würde man Klara unter den größten Frauengestalten der Geschichte finden."
Um also die Spuren der wahren Größe Klaras als Person zu finden (im Mittelalter achtete man nur wenig auf das Persönliche), wird man besonders auf die Einzelheiten achten, gleichsam zwischen den Zeilen lesen und sogar in den weniger offiziellen und nicht hagiographischen Quellen nachgraben müssen.
In erster Linie muß man sich dabei auf ihr Testament beziehen, das ihr persönlichstes autobiographisches Werk ist, dann auf das VI. Kapitel ihrer Regel, auch dieses autobiographisch; schließlich auf den Heiligsprechungsprozeß, in dem unter Eid direkte und zeitgenössische Zeugen, Schwestern und andere Personen, aussagen.

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