Reife Ausgeglichenheit
17. Auch bei Klara müssen wir fragen, inwieweit bei ihr "Weibliches" und "Männliches" ausgeglichen war. Diese Ausgeglichenheit ist ja für das Wachsen und Reifen jedes Menschen entscheidend. Gerade wegen dieser Ausgeglichenheit wird sie Modell der Menschlichkeit, "Beispiel und Spiegel" für alle.
Was gleich auffällt bei der ersten Begegnung mit der Persönlichkeit Klaras, ist ihr starkes Temperament. Dies führt sie dazu, gegen jedes Hindernis zu kämpfen, das sie hindert, ihren Weg zu gehen, den sie für notwendig ansieht. Beschäftigt man sich aber tiefer mit ihrer Persönlichkeit, entdeckt man mit wachsendem, erfreuten Staunen die harmonische Ausgeglichenheit einer außerordentlichen Menschlichkeit, die man nur als genial und beispielhaft für alle bezeichnen kann.
Dennoch scheint etwas dieses Bild zu stören: eine gewisse übermäßige oder extreme Tendenz Klaras zu körperlichen Bußübungen, zu Nachtwachen unter Tränen, zu Fasten und Abstinenz.
Unsere Bestürztheit rührt aber vom gleichen Teufel her, der Klara nahelegte, nicht mehr zu weinen, da sie dann blind würde, und sich nicht zu viele Bußübungen aufzuerlegen, da dies ihren Körper entstelle. Klara hingegen antwortete nur: "Der wird nicht erblinden, der Gott schaut" und "dem wird nichts verunstaltet, der Gott dient" (Legende Klara, 19).
Der übermäßige Bußeifer Klaras machte auch Franziskus und selbst dem Bischof von Assisi Sorgen, die meinten, einschreiten zu müssen. Da Franziskus aber selbst an strenge körperliche Bußübung gewöhnt war, bat er am Ende seines Lebens seinen Bruder Leib um Entschuldigung. Klara hatte ihren Schwestern gegenüber immer große Mäßigung und Sanftmut erwiesen. Der dritte Brief an Agnes von Prag erweist es, in dem sie daran erinnert, wie Franziskus die Festtage "mit Abwechslung im Essen uns zu feiern besonders gemahnt hat" und wie man den gebrechlichen und kranken Schwestern "gemäß seiner Mahnung und seinem Befehl hinsichtlich aller Speisen die größtmögliche Rücksichtnahme" angedeihen lassen solle (3. Brief an Agnes,29-31).
Auch Agnes erteilte sie weise Ratschläge, die sie allerdings nicht auf sich selbst anwenden wollte: "Freilich ist unser Fleisch weder Fleisch von Erz, noch Felsenkraft unsere Kraft, ja, wir sind gebrechlich und zu jeder körperlichen Schwäche geneigt. Deshalb bitte ich, Liebste, und trage Dir im Herrn auf, daß Du Dich weise und vernünftig von jener unvernünftigen und unmöglichen Strenge des Fastens, die Du, wie ich weiß, begonnen hast, zurückziehst, damit Du lebend den Herrn preisest, dem Herrn einen geistigen Gottesdienst darbringst und Dein Opfer stets mit Weisheit ("Salz") gewürzt sei" (3. Brief an Agnes, 38-41).
18. Um diese extreme Bußpraxis Klaras zu verteidigen, gibt der Autor der Klaralegende (Legende Klara, 18) eine unerwartete und ziemlich überzeugende Erklärung: "Wenn sonst harte körperliche Kasteiung gewöhnlich einen niedergedrückten Geist zur Folge hat, so trat bei Klara ganz anderes zutage: sie bewahrte bei all ihrer Abtötung eine fröhliche, heitere Miene, so daß sie körperliche Bedrängnis entweder nicht zu spüren oder sie zu belächeln schien. Daraus ist klar zu ersehen, daß die heilige Freude, von der sie innerlich überströmte, nach außen überfloß; denn die Liebe des Herzens nimmt den Kasteiungen des Leibes die Härte."
Ein Echo dieser ekstatischen oder mystischen Erfahrungen haben wir im bekannten volkstümlichen Troubadourvers, der auch Franziskus und Klara bekannt gewesen sein dürfte: "Das Gut, das ich erwarte, ist so groß, daß mir jede Mühe zum Vergnügen wird" (Fioretti I Cons.; FF 1897).
Dies alles zeigt eine reife Liebe in ihrer ganzen Tiefe, sei es zu Gott, dem mit bräutlicher Liebe Geliebten, sei es zu einem Menschen, wie dem seligen, ja überaus seligen Vater Franziskus, nach Gott die einzige Hilfe für Klara, der wahre Liebhaber und Nachahmer Christi, gleichsam ein sakramentales Symbol der wahren Liebe. Von Anfang an, als der Gekreuzigte in San Damiano Franziskus beim Namen rief, brachte er ihn dazu, die Ankunft Klaras und der Schwestern vorauszusagen, die berufen seien, die Kirche wiederherzustellen und zu heiligen, in der Gemeinschaft der Liebe mit ihm und seinen Brüdern.
Beseelt von solcher Liebe, die Gabe des Heiligen Geistes ist, wußte Klara die Weisheit der Diskretion, der Unterscheidung der Geister zu lernen, mit der sie begabt zu sein scheint. Schon in der Zeit, in der sie im Mutterhaus lebte und dann im Leben im Kloster, bewies Klara, daß sie neben einer "starken und heiligen Widerstandskraft" gegenüber allen Gegenströmungen, auf die sie stieß, eine große Seelenruhe (Heiterkeit) besaß: ruhig verfolgte sie den eigenen Weg, ohne sich zu beunruhigen, irritieren zu lassen oder sich aufzulehnen; stets blieb sie die treue Freundin, Mutter und Tochter derer, die ihr auch entgegentreten mochten, seien es Päpste und Kardinäle.
19. Mit vollständiger Klarheit wußte sie zu erkennen, was das "Notwendige" war - ihre Lebensform, die sie durch Franziskus vom Herrn erhalten hatte, das Privileg der Armut, der Geist des Gebetes, dem alle zeitlichen Dinge dienen mußten, der vor allem erstrebenswerte Geist des Herrn, die Einheit in gegenseitiger Liebe - , und sie wußte dies deutlich vom "Sekundären" zu unterscheiden - Institutionen, Konstitutionen, Regeln, Namen, Titel (wie derjenige der Äbtissin).
In dem, was notwendig war, hielt sie immer fest an der Zucht Gottes (tenax disciplinae Dei), wie das Brevier sagte; in allem übrigen akzeptierte sie, was den Umständen entsprach oder notwendig war , ohne fanatischen Protest, der bei den Bewegungen der Waldenser , Humiliaten, Katharern und anderen üblich war. In solch weiser Unterscheidung zeigte sich die Kraft ihrer Persönlichkeit als Frau und Mutter: in radikaler Treue zu dem, was das Zentrum ihrer evangelisch-franziskanischen Lebensweise ("Projekt") darstellte, und in heiterer Annahme vieler Normen, die die römische Kurie für passend und notwendig hielt.
Übrigens ist es ziemlich bezeichnend, daß viele Diskussionen, Anstöße zum Fanatismus und Spaltungen, wie z.B. die in die wörtliche oder geistliche Observanz der Regel, dem Geist Klaras fremd sind. Während Franziskus von einer geistlichen Observanz spricht, fügt Klara in das X. Kapitel der Regel einen paulinischen Text ein, der sich auf den Geist der Einheit und Liebe bezieht, dem Band der Vollkommenheit, der der Uneinigkeit und Spaltung entgegengesetzt ist: "Immer aber sollen sie besorgt sein, einander die Einigkeit der gegenseitigen Liebe zu bewahren, die das Band der Vollkommenheit ist."
So liegt es nahe anzunehmen, daß der Geist des Herrn und sein heiliges Wirken in dieser gegenseitigen Liebe bestehen, die erstrebenswerter ist als alles und praktiziert wird bis zur Feinesliebe, auch gegenüber denen im gleichen Haus. Doch es ist notwendig anzumerken, daß eine solche Ausgeglichenheit, wie vollkommen sie auch sei, dennoch nicht jene Kälte hat, der man manchmal auf einem Niveau klassischen aszetisch-mystischen Lebens begegnet. Klara bewahrt immer ihre Menschlichkeit und Weiblichkeit.
20. Das Zeugnis, auf das wir uns hier beziehen, stammt aus der letzten Woche des Lebens des Franziskus. Es hat die ganze Intensität einer starken und reifen Erfahrung, die beide in tiefer Weise machen. Beide sind schwer krank, Klara fürchtet, eher als Franziskus zu sterben, ohne ihn noch einmal sehen zu können. Dies könnte als Schwäche erscheinen, offenbart aber die Kraft der Menschlichkeit dieser Frau, die bis jetzt alle möglichen und unmöglichen Drangsale überwunden hat, so daß sie unerschütterlich scheint - dennoch ist sie äußerst sensibel.
"Entkräftet weinte sie und fand keinen Frieden, da sie dachte, sie sähe Franziskus nicht mehr, ihren einzigen Vater nach Gott, ihn, der sie an Geist und Leib tröstete (consolatorem utriusque hominis), der sie in der Gnade des Herrn begründet hatte. Durch einen Bruder ließ Klara diese ihre Furcht wissen" (dieses "ließ wissen" zeigt die für Klara typische Initiative). Der "selige" Franziskus, gewöhnlich streng und vorsichtig, verliert seine übliche Zurückhaltung, wie mit Bruder Jakoba in einem ähnlichen Zusammenhang, und läßt Klara gleich in einem Brief wissen, der ganz für sie und sehr zartfühlend ist ("im Heiligen Geist", merkt der Hagiograph an), daß er sie persönlich segne, sie von jeder Verfehlung losspreche und ihr versichert, sie werde ihn noch sehen. Er dachte beständig - kommentiert der Text - an die ersten Tage der Unterhaltung mit Klara und an ihre Bekehrung. "Die Bekehrung Klaras hatte nicht nur die Gemeinschaft der Brüder, sondern die ganze Kirche Gottes sehr erbaut" (Legenda Perugina, 109).
Ein großer Franziskaner unserer Tage, Kajetan Esser, schrieb, daß Franziskus seine große Heiligkeit darin erwies, daß er so menschlich war, daß er auf dem Totenbett von Bruder Jakoba Kuchen annahm, ja ausdrücklich erbat - gegen jeden asketisch-hagiographischen Maßstab. Können wir da nicht mit gutem Recht feststellen, daß auch Klara ihre Heiligkeit darin zeigte, daß sie sich gegenüber dem sterbenden Franziskus als Frau, Tochter und Mutter erwies?
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