Die junge Klara in ihrer familiären und kulturellen Umgebung
 
7. Klara empfing ihre menschliche Prägung zu Beginn in der adligen und ritterlichen Umgebung der Familie. Ihr Vater ist ein miles, ein Kriegsritter, oft von  zu Hause abwesend. Faktisch überläßt er die Leitung seines Hauses seiner Frau Ortolana. Sie war  Mutter, Mittelpunkt der Familie und direkte Erzieherin ihrer drei Töchter Klara, Katharina (die  dann von Franziskus den Namen Agnes empfing) und Beatrice. Die "adelige" Umgebung der Familie  setzt bei Ortolana voraus und schließt ein einerseits eine weibliche und mütterliche  Begabung, die sich in der praktischen Sorge der häuslichen Arbeiten zeigt, umfangreich in einem  Haus, das selbstverständlich dem Adel von Assisi geöffnet war, und auf  der anderen Seite die ständige Aufmerksamkeit für die menschliche und  religiöse Prägung der Familie. Dennoch bleibt Ortolana Zeit, um Wallfahrten an ferne Orte zu unternehmen und armen Nachbarn der Stadt  zu dienen. 
Einen bedeutenden Platz nahm unter den häuslichen Arbeiten das  Spinnen und Weben ein, in denen Klara sich später als Meisterin erweisen sollte. Zur kulturellen  Ausbildung gehörte für die junge Adlige das Erlernen des Lesens und Schreibens. Man las den  Psalter, die Schriften der ritterlichen, volkstümlichen Kultur , Spielmanns- und Troubadourdichtung  (Lieder, Romane, Geschichten) französischer Art und franko-belgischer sowie deutscher  Herkunft. Sie waren zu der Zeit auch in Italien weit verbreitet. Besonders gefeiert wurden die  heroischen Taten der Tafelrunde, mit Helden wie Arthur, Karl dem Großen und den Fürsten  Orlando und Lancelot. Es handelt sich um Erzählungen heroischer Taten, manchmal sogar  außergewöhnlicher Demütigungen, denen sich der adlige Ritterkandidat  unterwarf, um den König zu ehren, den Kaiser, seinen Herrn, seine verehrte Herrin, die Kirche, oder auch, um die Armen  und Schwachen zu verteidigen. Diese Erinnerungen an eine Treue auf Leben und Tod,  gesungen und dramatisiert, riefen Bewunderung und Impulse, dies mutig nachzuahmen, in den  zuhörenden Mädchen und Damen hervor.  
8. Gleichzeitig begünstigte das höfische Milieu, daß sich eine neue  Kultur der Leidenschaft und der Liebeskunst bildete und entwickelte, auch in ihrem erotischen  Ausdruck, gesehen als tiefe und totale Sehnsucht, geliebt zu sein und zu lieben mit der ganzen  Person. Oft fand eine solche Liebe ihre Sublimation in Christus und der Jungfrau Maria, aber auch in  intensiven Freundschaften zwischen Menschen und schließlich in der Liebe  zu allen Geschöpfen. Ausgedrückt wird diese Liebe in klassischen und biblischen Symbolen und in solchen  der ehelichen oder mystischen Liebe. Das Hohelied der Liebe wird zu einer Quelle der  Inspiration. So z.B. beim hl. Bernhard und der zisterziensischen Schule, besonders bei Wilhelm von St.  Thierry (dieser Schule steht Klara wohl nah) oder in der Strömung der subtilen Liebe  eines Macabru und einer Minnemystik einer Beatrice von Nazareth und einer Hadewijch. 
Sähe man ab von dieser Minnekultur, die im Europa der Jahre 1150 -  1250 so verbreitet ist, könnte man die neue und tiefe Entwicklung weder verstehen noch  verfolgen, die bei der Frau in dieser Adelsumgebung stattfand, in der die kleine Pflanze des Franziskus  blüht und leuchtet, und bei ihren Armen Schwestern und Frauen in San Damiano, in Prag, in  Monticelli und anderswo, die sich in wenigen Jahren über den ganzen europäischen  Kontinent verbreiteten. Die Minnemystik wurde in den Gemeinschaften in großer Armut und Demut gelebt  und verwirklichte sich in der geistlichen Familie der Minderbrüder, der  Armen Schwestern und bei den neuen Büßern. Sie waren den Armen und Kleinen nahe, die am Rande der  Gesellschaft lebten, außerhalb des feudalistischen Klassengesetzes. Die  Menschen "ohne Stimme", die sich keiner persönlichen Freiheit erfreuten, werden vertraut mit der Minnemystik und  suchen sie, wodurch sich diese unaufhaltsam verbreitet.  
9. In diesem geschichtlichen Zusammenhang gilt folgendes: Auch wenn wir uns nicht die wunderhafte Vision oder mütterliche Intuition Ortolanas vor Augen führen wollen, die die Geburt Klaras als strahlendes Licht über die ganze Welt hin voraussah, können wir doch Klara sicher als Person erkennen, die außerordentlich von der Natur und der Gnade begabt war. Sie besaß ein selbständiges, entschiedenes und unternehmungslustiges Wesen, das mit großer Entschlossenheit ihren eigenen Ort zuhause und außerhalb sucht. Wirklich eine anziehende und starke Persönlichkeit.  
Im Heiligsprechungsprozeß finden wir davon Spuren, von denen Zeugen  sprechen, die Klara schon in der Zeit vor Beginn ihres Ordenslebens nahestanden, also in der  Zeit, die sie im Elternhaus verbrachte. Hier zeichnet sich die junge Klara ab, die im  Haus mit der Mutter lebt. Ihr Verhalten wird beschrieben als "ehrenhaft und von gutem Ruf,  liebenswürdig und höflich": typische Ausdrücke einer adligen Welt. Außerdem bezeugt man ihr frommes  Leben der Buße und Barmherzigkeit, großzügig zu den Armen: eine Lebensweise also, von  allen geachtet, innerhalb und außerhalb des Hauses. Die Charakterbildung verdankte sie  sicher zu einem großen Teil Ortolana, dieser Frau des Gebetes, arbeitsam, offen für die  Werke der Barmherzigkeit, auch außerhalb des Kreises der Nachbarn.  
Außerhalb des Hauses ist Klara reserviert, diskret, schweigsam; im Gegensatz zu den schönen Mädchen der Umgebung sucht sie keine Bewunderung. Mit großer Standhaftigkeit weist sie alle Heiratsanträge zurück, ohne einem der Kandidaten irgendeinen Anlaß zur Hoffnung zu geben, wie einer davon im Prozeß ausdrücklich bekannte.  
Sie ist schon ganz vom Herrn ergriffen, gibt sich dem Gebet hin und den Werken der Liebe an den Armen. Wie ihre Mutter sieht sie sich in jener Lebensform, die von vielen jungen Frauen gelebt wird, ohne in ein Kloster oder in einen Konvent eintreten zu wollen: gottgeweihte Frauen, Büßerinnen, Arme Christi, Reklusinnen, Laienschwestern.  
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