Dienstag, 6. März 2012

Klara von Assisi, die neue Frau

Die junge Klara in ihrer familiären und kulturellen Umgebung

7. Klara empfing ihre menschliche Prägung zu Beginn in der adligen und ritterlichen Umgebung der Familie. Ihr Vater ist ein miles, ein Kriegsritter, oft von zu Hause abwesend. Faktisch überläßt er die Leitung seines Hauses seiner Frau Ortolana. Sie war Mutter, Mittelpunkt der Familie und direkte Erzieherin ihrer drei Töchter Klara, Katharina (die dann von Franziskus den Namen Agnes empfing) und Beatrice. Die "adelige" Umgebung der Familie setzt bei Ortolana voraus und schließt ein einerseits eine weibliche und mütterliche Begabung, die sich in der praktischen Sorge der häuslichen Arbeiten zeigt, umfangreich in einem Haus, das selbstverständlich dem Adel von Assisi geöffnet war, und auf der anderen Seite die ständige Aufmerksamkeit für die menschliche und religiöse Prägung der Familie. Dennoch bleibt Ortolana Zeit, um Wallfahrten an ferne Orte zu unternehmen und armen Nachbarn der Stadt zu dienen.
Einen bedeutenden Platz nahm unter den häuslichen Arbeiten das Spinnen und Weben ein, in denen Klara sich später als Meisterin erweisen sollte. Zur kulturellen Ausbildung gehörte für die junge Adlige das Erlernen des Lesens und Schreibens. Man las den Psalter, die Schriften der ritterlichen, volkstümlichen Kultur , Spielmanns- und Troubadourdichtung (Lieder, Romane, Geschichten) französischer Art und franko-belgischer sowie deutscher Herkunft. Sie waren zu der Zeit auch in Italien weit verbreitet. Besonders gefeiert wurden die heroischen Taten der Tafelrunde, mit Helden wie Arthur, Karl dem Großen und den Fürsten Orlando und Lancelot. Es handelt sich um Erzählungen heroischer Taten, manchmal sogar außergewöhnlicher Demütigungen, denen sich der adlige Ritterkandidat unterwarf, um den König zu ehren, den Kaiser, seinen Herrn, seine verehrte Herrin, die Kirche, oder auch, um die Armen und Schwachen zu verteidigen. Diese Erinnerungen an eine Treue auf Leben und Tod, gesungen und dramatisiert, riefen Bewunderung und Impulse, dies mutig nachzuahmen, in den zuhörenden Mädchen und Damen hervor.

8. Gleichzeitig begünstigte das höfische Milieu, daß sich eine neue Kultur der Leidenschaft und der Liebeskunst bildete und entwickelte, auch in ihrem erotischen Ausdruck, gesehen als tiefe und totale Sehnsucht, geliebt zu sein und zu lieben mit der ganzen Person. Oft fand eine solche Liebe ihre Sublimation in Christus und der Jungfrau Maria, aber auch in intensiven Freundschaften zwischen Menschen und schließlich in der Liebe zu allen Geschöpfen. Ausgedrückt wird diese Liebe in klassischen und biblischen Symbolen und in solchen der ehelichen oder mystischen Liebe. Das Hohelied der Liebe wird zu einer Quelle der Inspiration. So z.B. beim hl. Bernhard und der zisterziensischen Schule, besonders bei Wilhelm von St. Thierry (dieser Schule steht Klara wohl nah) oder in der Strömung der subtilen Liebe eines Macabru und einer Minnemystik einer Beatrice von Nazareth und einer Hadewijch.
Sähe man ab von dieser Minnekultur, die im Europa der Jahre 1150 - 1250 so verbreitet ist, könnte man die neue und tiefe Entwicklung weder verstehen noch verfolgen, die bei der Frau in dieser Adelsumgebung stattfand, in der die kleine Pflanze des Franziskus blüht und leuchtet, und bei ihren Armen Schwestern und Frauen in San Damiano, in Prag, in Monticelli und anderswo, die sich in wenigen Jahren über den ganzen europäischen Kontinent verbreiteten. Die Minnemystik wurde in den Gemeinschaften in großer Armut und Demut gelebt und verwirklichte sich in der geistlichen Familie der Minderbrüder, der Armen Schwestern und bei den neuen Büßern. Sie waren den Armen und Kleinen nahe, die am Rande der Gesellschaft lebten, außerhalb des feudalistischen Klassengesetzes. Die Menschen "ohne Stimme", die sich keiner persönlichen Freiheit erfreuten, werden vertraut mit der Minnemystik und suchen sie, wodurch sich diese unaufhaltsam verbreitet.

9. In diesem geschichtlichen Zusammenhang gilt folgendes: Auch wenn wir uns nicht die wunderhafte Vision oder mütterliche Intuition Ortolanas vor Augen führen wollen, die die Geburt Klaras als strahlendes Licht über die ganze Welt hin voraussah, können wir doch Klara sicher als Person erkennen, die außerordentlich von der Natur und der Gnade begabt war. Sie besaß ein selbständiges, entschiedenes und unternehmungslustiges Wesen, das mit großer Entschlossenheit ihren eigenen Ort zuhause und außerhalb sucht. Wirklich eine anziehende und starke Persönlichkeit.
Im Heiligsprechungsprozeß finden wir davon Spuren, von denen Zeugen sprechen, die Klara schon in der Zeit vor Beginn ihres Ordenslebens nahestanden, also in der Zeit, die sie im Elternhaus verbrachte. Hier zeichnet sich die junge Klara ab, die im Haus mit der Mutter lebt. Ihr Verhalten wird beschrieben als "ehrenhaft und von gutem Ruf, liebenswürdig und höflich": typische Ausdrücke einer adligen Welt. Außerdem bezeugt man ihr frommes Leben der Buße und Barmherzigkeit, großzügig zu den Armen: eine Lebensweise also, von allen geachtet, innerhalb und außerhalb des Hauses. Die Charakterbildung verdankte sie sicher zu einem großen Teil Ortolana, dieser Frau des Gebetes, arbeitsam, offen für die Werke der Barmherzigkeit, auch außerhalb des Kreises der Nachbarn.
Außerhalb des Hauses ist Klara reserviert, diskret, schweigsam; im Gegensatz zu den schönen Mädchen der Umgebung sucht sie keine Bewunderung. Mit großer Standhaftigkeit weist sie alle Heiratsanträge zurück, ohne einem der Kandidaten irgendeinen Anlaß zur Hoffnung zu geben, wie einer davon im Prozeß ausdrücklich bekannte.
Sie ist schon ganz vom Herrn ergriffen, gibt sich dem Gebet hin und den Werken der Liebe an den Armen. Wie ihre Mutter sieht sie sich in jener Lebensform, die von vielen jungen Frauen gelebt wird, ohne in ein Kloster oder in einen Konvent eintreten zu wollen: gottgeweihte Frauen, Büßerinnen, Arme Christi, Reklusinnen, Laienschwestern.

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